Lockdown-Tagebuch, Teil 9
Wenn du wissen willst, woran es hakt – lies einfach die „Bild“. Die „Bild“ ist das Organ des gesunden Volksempfindens und immer zur Stelle, wenn es darum geht, diffuses Bauchgefühl zu bedienen. Davon gibt es aktuell mehr als genug. Es ist mal wieder die große Zeit von „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“, „Die da oben“ und „Die spinnen wohl“.
Einen überaus brillanten Mix aus diesen drei Komponenten haben die Vertreter des gesunden Volksempfindens gestern geliefert. Da hat der Regierende Bürgermeister von Berlin etwas gesagt, was an Banalität und Selbstverständlichkeit kaum zu toppen ist. Man müsse ja nicht, sagte der bedauernswerte Herr Müller, am 28. Dezember noch Pullover kaufen, das könne man auch vorher machen.
Was der gute Mann eigentlich sagen wollte damit: Die Welt geht nicht unter und die Zivilisation auch nicht, wenn man zwischen den Jahren mal nicht exzessiv shoppen gehen könne.
Was man ebenfalls festhalten muss: Da hat er wohl recht. Weil, wenn wir uns darauf nicht einigen können, dann vermutlich auf nix mehr. Dann muss man die Pandemie laufen lassen, weil Shoppen und Glühwein wichtiger sind als ein paar Leute, die an oder genauer mit Corona verrecken und die ja ohnehin bald verreckt wären.
„Bild“ also schreibt, was die Menschen denken:
So nicht, Herr Müller! Nicht in diesem Ton, Herr Müller! Das ist ein Schwachsinns-Vorschlag, Herr Müller! (Wobei das genau genommen gar kein Vorschlag war, aber bei der Bild darf man nicht so pingelig sein).
Am Abend versuchten sie es dann auch noch bei der Kanzlerin. Die hatte es gewagt, als Gegenmittel gegen kalte Klassenzimmer warme Jacken und etwas Bewegung zu empfehlen.
Schwachsinn! Unsinn! Zumutung, Frau Merkel!
Wobei ich auch hier gerne die Frage loswerden würde, wie das früher (also bis letztes Jahr) war: Wurden da Klassenzimmer nie gelüftet, weil Schüler schlagartig den Heldentod gestorben sind, wenn sie mit frischer, kühler Luft in Berührung kamen?
Aber so sind sie, die Volks-Jammerlappen aus Berlin. Genauso wie ihr jammerlappiges Lesevolk. Eine Ansammlung müder Opportunisten, dauerentrüsteter Nichts-Aushalter und Großmäuler.
Bild-Chef Julian Reichelt sagt übrigens in Interviews, bei der Frage nach dem Charakter eines Menschen/Kollegen überlege er sich gerne, ob er mit dem jeweils anderen im Schützengraben liegen wolle (er hat es mit martialischer Sprache, der Herr Reichelt).
Von dem her, verehrter Herr Reichelt, bleiben wir doch gleich bei der Sprache, die Sie so prima verstehen:
Mit Ihnen und den anderen Journalisten-Darstellern würde ich nicht im Schützengraben liegen wollen. Weil man da auf die Zähne beißen muss (ich war bei der Bundeswehr, ich weiß ein bisschen, von was ich rede). Ob da ein kettenrauchender Jammerlappen, der losheult, weil er keine Pullis kaufen darf, meine bevorzugte Wahl wäre, kann ich mit besten Gewissen verneinen.
Und jetzt: Abtreten und leise heulen, Schütze Reichelt.