Unsere tägliche Twitterhölle

Zu meiner Zeit (schön, so einen Klopper mal sagen zu können) gab es einen Komiker/Musiker/Moderator namens Jürgen von der Lippe. Die Verwendung der Vergangenheitsform ist hier ein bisschen irreführend, weil es von der Lippe, mittlerweile 71, immer noch gibt. Allerdings nicht mehr ganz so omnipräsent wie früher. Man musste irgendwann in den Achtzigern schon einen beträchtlichen Aufwand betreiben, um dem Mann im Hawaii-Hemd zu entgehen. In seinen besten Zeiten versammelte er mit diversen Samstagabend-Shows schon mal ein paar Millionen Leute vor dem Bildschirm. Und alles andere, was er unternahm, war ähnlich erfolgreich.

Viel mehr kann ich nicht dazu sagen. Jürgen von der Lippe war nie so ganz meins. Zu bollerig, immer ein bisschen schlüpfrig, zu laut und zu offensichtlich auf Effekt bedacht. Ein lebendes Hawaii-Hemd. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich in meinem Leben eine Reihe von Modesünden begangen. Ein Hawaii-Hemd war sicher nicht dabei.

Das Schöne an der damaligen Zeit (um endlich den nostalgischen Boomer-Schwenk hinzubekommen, der dieses Blog in Zukunft ein wenig prägen soll) war: Man musste von der Lippe wie auch alles andere auf der Welt nicht mögen, man konnte das prima ignorieren. Keinesfalls musste man sich darüber aufregen. Und auch für Herrn von der Lippe müssen das selige Zeiten gewesen sein: Das Schlimmste, was passieren konnte, waren ein paar schlechte TV-Kritiken in den Zeitungen.

Man darf aber annehmen, dass das Jürgen von der Lippe ziemlich wurscht war. Wenn du regelmäßig fünf Millionen Zuschauer hast, ist es dir weitgehend egal, ob einem Kritiker deine Sendung nicht gefällt. Schon alleine deshalb, weil du auch auf dem Konto ein paar Millionen mehr hast als der Kritiker. Und mehr Reichweite sowieso.

Man musste, das als letzte Grundsatzbemerkung zu Jürgen von der Lippe, sich auch nie wirklich über ihn aufregen. Was er machte, war samstagabendkonforme, ARD-taugliche Mainstreamunterhaltung. Nicht jedermanns Geschmack, aber alles in allem so harmlos, dass am Montag Morgen alles mögliche Straßengespräch war, nur nicht eine Samstagabendshow mit von der Lippe. Mit der Betonung auf: war. Heute würde er wahrscheinlich sofort ein Fall für den Rundfunkrat und tagelangen Grundsatzdebatten.

Heute ist also wieder Montag und der Begriff „Straßengespräch“ existiert nicht mehr. Ähnlich übrigens wie „Straßenfeger“. Jürgen von der Lippe allerdings hat ein Interview gegeben, das mittlerweile einen kleinen Shitstorm ausgelöst hat, dem digitalen und hässlichen Gegenstück zum Straßengespräch.

Mit allem, was dazugehört: Er solle die Klappe halten, man könne den Mann ja nicht ernst nehmen, dann sollen solche Leute wie er halt aussterben. Was man in der Twitter-Hölle eben schreibt, wenn die tägliche Sau durchs Dorf getrieben wird. Man entdeckt dabei dann so lustige Accounts wie „Mackerhass“ und auch die notorisch unlustige Sophie Passmann meldet sich sofort zu Wort: alter, weißer Mann hat was gesagt, da greift der Beißreflex. Einer schrieb dann übrigens noch das unvermeidliche „Ok Boomer“, was Twitter, wäre es ein besserer Ort, sofort mit einer zweiwöchigen Sperrung des Accounts wegen erwiesener Unoriginalität belegen müsste.

Von der Lippe hat dabei (wissentlich?) gleich zwei Themen aufgegriffen, über die man besser nichts sagen sollte: Greta T. bezeichnete er als „Comedy“, von der die Leute langsam die Nase voll hätten, weil mittlerweile die Kritik an den Zuständen nerviger seien als die eigentlichen Zustände. Und zum „Metoo-Thema“ sagte er auch noch was. Sinngemäß: Man müsse heute schon aufpassen, wenn man mit einer Frau flirte, das werde schnell als Übergriffigkeit missverstanden resp. empfunden.

In der täglichen Empörungsdemokratie wurden dann daraus so groteske Unterstellungen wie die, dass von der Lippe gesagt habe, ohne Übergriffigkeit mache das Flirten keinen Spaß mehr.

Dabei hätte man es eigentlich schnell wieder gut sein lassen können. Von der Lippe beklagt im Wesentlichen eine ziemlich verkrampfte und aggressive Atmosphäre, wobei ihm kaum jemand widersprechen kann, der nicht die letzten Jahre auf der dunklen Seite des Mondes verbracht hat. Wenn Bücher in den Bestseller-Listen inzwischen reihenweise heißen wie „Die aufgeregte Gesellschaft“, „Gesellschaft des Zorns“ oder „Die große Gereiztheit“, alle übrigens von Wissenschaftlern geschrieben, dann scheint da schon ein bisschen was dran zu sein. Nebenbei: Alle drei Büchern seien hiermit dringend zur Lektüre empfohlen!

Kurzum: Ich glaube, dass es in unserer goldenen Boomer-Zeit (also inzwischen vor bald 40 Jahren) deutlich gelassener zuging. Dass man nicht wegen jedem Kleinkram wie beispielsweise einem vergleichsweise läppischen Interview schäumend im Twitter-Dreieck hüpft und man den Geifer kaum mehr wegbringt. Dass man Dinge auch mal an sich vorbeiziehen lässt und nicht über jedes Stöckchen springt, das einem irgendein Netzwerk hinhält.

Und vor allem: Nee, ich war wirklich nie ein Fan von Jürgen von der Lippe, teile auch die Ansichten, die er jetzt von sich gibt, nur bedingt. Aber die Art, wie die Verfechter von Toleranz, Demokratie, Frauenrechten und die „Ok Boomer“-Spötter jetzt gerade über ihn herfallen, sagt mehr über sie als über von der Lippe aus. Ein guter, alter Benimmkurs wäre jedenfalls im einen oder anderen Fall keine so schlechte Maßnahme.

Falls ihr nicht wisst, was dieses Benehmen sein soll, liebe Kinder: Im Duden steht es. Und wenn ihr gerade dabei seid, schaut doch mal, ob ihr den Begriff „egal“ findet und markiert ihn euch.

Wir sind ok, Boomer!

Zum Geburtstag habe ich dieses Jahr etwas ganz Besonderes bekommen: Zwei Originalausgaben von Zeitungen meines Geburtstages. Eine Ausgabe ist die New York Times, die andere der „Spiegel“. Falls Sie mich zufällig kennen oder anderweitig etwas über mich wissen, dann ahnen Sie: Die beiden Blätter sind verdammt alt. Um genau zu sein: 55 Jahre. Das ist über ein halbes Jahrhundert.

Wir Ältere wundern uns bei solchen Zahlen bestenfalls darüber, wie schnell die Zeit vergeht. Für Jüngere ist es unvorstellbar, wie man so alt werden kann. Und dass es die Zeiten, in denen wir geboren wurden, tatsächlich mal gegeben hat. Ich für meinen Teil gehöre unbestreitbar zu den Generation der Babyboomer. Wenn man das heute diesen Begriff für sich verwendet, könnte man genauso gut zugeben, zum Abendessen am liebsten Meerschweinchen zu verdrücken. Viel schlimmer als Boomer geht heute nicht mehr.

Und dann habe ich mich als durchgeblättert die Hefte. Hab gestört in Namen, die ich selbst nur noch aus dem Geschichtsunterricht kenne. Mich durch abenteuerliche Layouts in schwarz-weiß gewühlt. Und bin auf Werbungen gestoßen, die mehr als alles andere ein lang versunkenes Lebensgefühl widerspiegeln. Schwer zu beschreiben mit wenigen Worten, aber es hatte viel mit Zigaretten zu tun.

Bei den Zigaretten – ab und an schrieb man damals auch „Cigaretten“, das sollte wohl edler wirken – bin ich dann auf dieses Prachtexemplar hier gestoßen:

Vermutlich war das das prägende Merkmal dieser Zeit, unserer Zeit: raus in die große weite Welt, weg vom piefigen, regnerischen, grauen und kalten Deutschland. Musste ja nicht für immer sein und auch nicht sonderlich abenteuerlich. Große, weite Welt, das bedeutete für unsere Eltern und oft genug für uns: Adria. Oder, wenn es denn mal mit dem Flugzeug richtig weit weggehen sollte: Mallorca, bei dem damals nie jemand auf die Idee gekommen wäre, es „Malle“ zu nennen. Oder mal eben über das Wochenende zum Golfen oder auch nur zum Saufen dorthin zu fliegen. Schon alleine deswegen nicht, weil das Fliegen damals einen großen bürokratischen Akt mit viel Papier erforderte. Und teuer war’s zudem.

Aus heutiger Sicht eine noch absurdere Idee als damals schon: Der Gestank einer giftigen Zigarette als „Duft der großen, weiten Welt“. Darüber schüttelt man heute zurecht den Kopf. Damals, da bin ich mir sicher, sind eine Menge Leute darauf angesprungen: Rauchen ist cool und Peter Stuyvesant klingt irgendwie weltmännisch.

Aber Moment, Fliegen – da war doch was. Das ist diese Geschichte, für die man sich heute unbedingt schämen sollte. Fliegen ist indiskutabel, umweltzerstörend, der Inbegriff der Ignoranz, mit der wir Boomer die Welt in eine unrettbare Situation gebracht haben.

Und plötzlich merkst du: Weil du ein bestimmtes Alter erreicht hast, nehmen dich die Generationen nach dir nur noch eingeschränkt für voll.

Man versteht bei dem Thema ganz gut, warum wir Boomer vermeintlich so aus der Zeit gefallen sein sollen: Wenn man sein ganzes Leben mit bestimmten Vorstellungen, Werten und Ideen verbracht hat, dann ist es nicht so ganz einfach, das alles mal eben wieder über Bord zu werfen. Schade, dass ich vermutlich nicht mehr miterleben werde, wie die Fridays-for-Future-Generation irgendwann sich selbst zugestehen muss, dass sie von ihren Kindern und Enkeln nicht mehr für ganz voll genommen wird. Das allerdings ist unausweichlich, weil es sich dabei um das gnadenlose Schicksal jeder Generation handelt. Irgendwann ist sie aus der Zeit gefallen oder zum vermeintlich lässigen Accessoire verkommen. Fragen Sie mal die Punks aus der Hoch-Zeit der Bewegung Ende der 70er. Punk-Motive auf H&M-Shirts zu sehen, das hätten die sich nicht träumen lassen. War ja auch nicht die Idee, damals.

Reisen also, das Gefühl der großen, weite Welt. Die war für uns tatsächlich noch groß und weit. Weil Fliegen damals zwar nicht als Menschheitsbedrohung wahrgenommen wurde, dennoch aber erstens sauteuer und zweitens komplex zu organisieren war.

Bis in die 80er hinein hatte jeder, der fliegen wollte, einen halben Aktenordner an Unterlagen dabei. Dessen Zusammensetzung verstanden nur die Menschen am Check-in und man selber war froh, wenn man unbeschadet rein und wieder raus kam. Boarding-Pässe online, buchen in einer App und Flüge für 50 Euro nach Malle? Undenkbar. Wer flog, hatte es geschafft.

Aus dem ehemaligen Statussymbol Fliegen ist eine erstklassige Peinlichkeit geworden

Dass es weder der Umwelt noch dem Ambiente des Fliegen guttut, dass man heute für alberne Beträge in Minutenschnelle buchen kann, ist dann wieder ganz etwas anderes. Für uns böse Boomer war Fliegen lange Zeit nicht weniger als das: ein Statussymbol. Zeiten ändern sich, heute steht Fliegen für alles, was schlecht ist in der Welt, einschließlich für uns, schon klar.

Wie schnell kann man sich auf neue Zeiten einstellen und wie lange dauert es, bis man als aus der Zeit gefallen gilt? Die Antwort auf diese Frage hat ganz mit der eigenen Perspektive zu tun. Bist du selber jung, was wir Boomer ja auch mal waren, obwohl sich das keiner so recht vorstellen kann, wundert man sich über die Alten: einfach nicht verstanden, wie die Welt tickt, klammern sich an frühere Konventionen, blockieren den Weg in eine bessere Zukunft. Keine Sorge, Snowflakes, das haben wir auch mal gedacht. So wie die Generation vor uns und da wiederum die Generation vor denen. Es ist also keineswegs eure wahnsinnig schlaue und neue Erkenntnis, wenn ihr denkt, dass Menschen, die ein paar Jahrzehnte älter sind als ihr, irgendwie anders und konservativer sind. Das denken wir alle, wenn wir jung sind.

Wenn du dich mit 50 aufführst wie mit 30, wird es schnell mal albern

Umgekehrt kann man sich als junger Hüpfer nur schwer vorstellen, jemals so zu werden wie die eigenen Eltern oder womöglich sogar die Großeltern. Was die alles verbockt haben, macht man selber irgendwann besser. Logisch, weil: Hat man ja gesehen, was rauskommt, wenn man die Alten machen lässt. Dass man dann früher oder später plötzlich aus dem Sturm&Drang jüngerer Jahre herausfällt, dass man Dinge gerne mal so belässt, wie sie sind und man umgekehrt anfängt, von 20-jährigen genervt zu sein – jeder heute 20jährige, dem man das heute prophezeit, wird entrüstet den Kopf schütteln. Aber auch hier gilt: Haben wir alle gemacht, passiert euch irgendwann genauso.

Was im Übrigen nicht verkehrt ist. Wer sich als Mann (oder Frau) im gesetzteren Alter immer noch anzieht und aufführt und womöglich sogar denkt wie ein Mittzwanziger, der hat erstens nichts begriffen und ist zweitens auf dem besten Weg, sich ein bisschen lächerlich zu machen.

Alles ganz normal also? Ein bisschen Generationen-Konflikt, mehr nicht? Vermutlich ja. Gemessen daran, was die Generation meiner Eltern an potenziellen Konflikten vorfand, ist das Ok-Boomer-Gerede von heute müdes Geschwätz. Unsere Eltern nämlich hatten sich mit der Frage zu beschäftigen, wie es zum größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte kommen konnte. Und viele mussten feststellen: Auch meine eigene Familie hängt da mit drin. Hätte diese Generation von gestohlenen Kindheiten gesprochen, man hätte es verstehen müssen. Dagegen wirkt das wohlfeile Zeug der Wohlstandsjünglinge von heute und ihr notorisches Genöle in Richtung Boomer-Generation ein wenig beliebig.

Schon Achtjährige werden zur Projektionsfläche

Neu ist auch, dass unsere eigene Generation offenbar der festen Überzeugung ist, dass unsere Kinder die Welt retten, die von uns an den Abgrund gebracht wurde. Während sie sich selbst geißeln, erzählen sie dann von ihren Achtjährigen, die sorgenvoll an mehr Klimaschutz und an den Weltfrieden denken. Beide habe ich schon gelesen, in allergrößter Ernsthaftigkeit vorgetragen: Mein Kind sorgt sich um den Weltfrieden und den Klimaschutz. Die Kinder solcher wahnwitziger Eltern tun mir regelmäßig leid. Auf der anderen Seite erklärt das ein bisschen, warum inzwischen auch gestandene Erwachsene einer 17-jährige aufbürden wollen, den ganzen Planeten retten zu müssen. So viel Projektionsfläche für irgendwas ist nicht mal der Papst.

Warum diese vielen Worte, ausgehend von einer Geschichte über zwei alte Zeitungen, die ich zum Geburtstag bekommen habe? Weil ich mich ein Jahr lang durchblättern möchte. Durch Anzeigen, Geschichten, alte Videos. Und anhand ihrer Geschichten erzählen. Über uns Boomer. Warum wir so sind wie wir sind. Und warum das gar nicht so schlimm ist, wie man neuerdings immer hört.

Mehr dann ab sofort an dieser Stelle.