Weil ich in meinem Leben schon ein paar Mal in den USA war und es insgesamt vermutlich auf etliche Monate Aufenthalt dort bringe, bilde ich mir ein, die USA besser zu kennen als der normale Durchschnitts-Tourist. Das bildet sich zwar jeder ein, der schon mal mehr gesehen hat als Miami Beach und den Times Square in New York. Aber das muss einen ja nicht von diesem Irrglauben abhalten.
Logbuch USA (1): Willkommen in einem völlig anderen Land
Als ich das letzte Mal in den USA war, war das buchstäblich ein anderes Land. Es waren die letzten Tage von Barack Obama, Trump war bereits president elect und niemand wusste so ganz genau, was danach auf das Land zukommen würde. Was noch alles kommt, wissen wir auch heute nicht so genau. Außer, dass man bei Trump besser nichts ausschließen sollte. Und dass alle ein bisschen verkehrt lagen die meinten, so schlimm werde es dann schon nicht werden, es gebe ja schließlich ein sehr funktionierendes System von checks and balances. Ich hing diesem Glauben ebenfalls nach. Heute würde ich sagen: Schön blöd, wie man sich täuschen kann…
Wenn ich am Mittwoch wieder im Flieger sitze, dann geht es in ein Land, das mir in den letzten Monaten fremd geworden ist. Hey States, was ist los mit euch? Die Sache mit der Radikal-Toleranz und der nahezu grenzenlosen Meinungsfreiheit fand ich immer großartig; noch dazu, wenn man in einer konsensbemühten und ein wenig langweiligen Republik groß geworden ist. Und jetzt? Brüllen sie „Heil Hitler“ und anderen Bullshit und euer Präsident schaut zu und findet das gar nicht mal so schlimm.
Auf der anderen Seite: Das können nur die Amis und das muss man ja dann fast schon wieder bewundern – erst den Übercharismatiker Obama wählen und dann die größte Dumfbacke in der an Dumpfbacken bestimmt nicht armen Geschichte der USA.
Und je näher der Abflugtermin am Mittwoch kommt, desto optimistischer bin ich gerade wieder, auch wenn es, nüchtern betrachtet, dazu momentan nicht so rasend viel Anlass gibt. Sie werden es schon hinbekommen, diesen Irren im Weißen Haus zu überstehen. Danach wählen sie womöglich dann doch mal die erste Frau (nach gerade mal gut 250 Jahren) oder den jüngsten oder den ersten Latino oder irgendwas. Hauptsache nur: nicht langweilig, nicht merkelig, nicht schulzig.
Bis dahin gibt´s erst mal wieder alles was ungesund ist: Pancakes, Eggs mit Bacon, Burger. Wenn man nur alle paar Monate mal da ist, kann man es ganz wunderbar aushalten da.
Das ganze Elend älterer Männer…
Die folgende Geschichte wäre ohne Kumpel Jürgen nicht entstanden. Deswegen muss ich erstmal ein paar Sätze über Kumpel Jürgen loswerden. Der Mann ist gerade 50 geworden, eine Seele von Mensch und hört deswegen hauptsächlich Metal. In allen Varianten. Sollten Sie zufällig mal auf der Suche nach dem Namen der angesagtesten Band aus der japanischen Trash-Metal-Szene sein, fragen Sie ihn. Jürgen hilft Ihnen vermutlich auch mit den letzten beiden Alben der Band weiter, die er mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Ort stehen hat, den man früher Plattenschrank nannte. Bei Jürgen ist es eher ein Plattenzimmer.
Die Zeit, die andere Menschen in unserem Alter auf Golfplätzen oder auf Kreuzfahrtschiffen verschwenden, verbringt Kumpel Jürgen lieber auf Festivals. Seine Facebook-Timeline besteht hauptsächlich aus Konzert- und Festivalfotos, meistens mit positiven Kommentaren irgendwo zwischen „sehr geschmeidig“ oder einfach nur: „Sehr geil!“.
Unlängst allerdings war Jürgen eher ungnädig. Das kann man verstehen. Weil sie ihm bei einem seiner Festivals die Kapellen Marillion und Saga ins Lineup gehoben haben und, wie zum Hohn, den Co-Headliner Kim Wilde. Das hat mich im ersten Moment ziemlich zum Lachen gebracht, weil ich vor meinem geistigen Auge Kumpel Jürgen in Kutte und mit allen anderen Metal-Accessoires gesehen habe. Und wie er mit gequälter Miene zuhören muss, wie Marillion irgendwelches Zeugs zusammenspielen, das so aufregend ist wie eine Lesung aus dem Telefonbuch.
Und Saga! Saga!! Ich habe zum letzten Mal vor ungefähr 30 Jahren ein Saga-Album angehört, habe aber danach nur noch gehört, dass sich die Jungs noch pseudointelligenter anhören als früher. Immerhin haben Marillion und Saga eines gemeinsam: Sie bringen es seit Dekaden perfekt hin, dass ihre Anhänger glauben, sie hören „gute“ Musik, nur weil die Jungs ihre Instrumente halbwegs beherrschen. Dabei sind die unerträglichen Synthie-Soli auch nur musikalisch-intellektuelle Schwanzvergleiche älterer Herren (mit Bauchansatz). Die Qualität der Bands bemisst sich demnach in der Länge komplett sinnloser Soli mit irgendwas.
Ach ja, und Kim Wilde, das Three-Hit-Wonder aus den USA, die irgendwann nochmal von Heulboje Nena für ein Duett missbraucht wurde, stimmt, die gab es ja an dem Abend auch noch. Immerhin brachte das für mich die Erkenntnis mit sich, dass die immer noch richtige Konzerte gibt und offenbar auch gebucht wird. Bisher dachte ich, dass man Kim Wilde bestenfalls noch bei Autogrammstunden in Autohäusern sieht.
Natürlich könnte man jetzt darüber philosophieren, warum so wenige den Absprung schaffen, wenn man noch in Würde gehen könnte und einfach in guter Erinnerung bliebe. Steffi Graf hat es geschafft, Boris Becker wird bis zum Ende seiner Tage lachplattengefährdet bleiben. Die Beatles lösten sich zum idealen Zeitpunkt auf, die Stones werden heute nicht mehr so sehr für ihre musikalischen Einfälle geliebt, sondern vor allem für die Tatsache, dass Keith Richards vermutlich der einzige Mensch ist, der auch einen Atomschlag überleben würde. Und unser aller Halbgott Lemmy hat neben einer Menge anderer Dinge auch gezeigt, wie man in einer sehr eigenen Würde alt wird…
Ok, Saga und Marillion, das ist noch mal was Anderes. Deren Beitrag zur musikalischen Weltgeschichte würde überschaubar sein, ließ sich schon irgendwann vor 30 Jahren feststellen. Danach taugten sie dann nur noch als Beleg für die Theorie, dass man die Menschheit auch zugrunde richten kann, in dem man sie einfach zu Tode langweilt. Nachdem das jeder mit sich selbst ausmachen muss, ist das nicht großartig zu kritisieren. Peinlich wird es dann erst, wenn 60jährige Männer mit birnenählichen Figuren auf der Bühne stehen und das dann auch noch auf Rockfestivals. Alten Männern geht, das muss man einfach auch für uns Normalos als Erkenntnis mitnehmen, mit zunehmenden Alter das Gespür für das verloren, wo die Grenze zwischen cool und peinlich verläuft.
Passt also auf, Jungs. Selbst wenn ihr nicht Mitglieder in Bands seid, die irgendwann in den Achtzigern mal semiberühmt waren: Die Gefahr, sich zum Vollhorst zu machen, lauert täglich überall.
Das Land der unmöglichen Begrenztheiten
Ok, gehen wir mal ein bisschen back in time. In diese Zeit der 80er Jahre, in denen ich großen geworden bin. Diese Jahre, die so verbohrt waren, dass sie mir trotz ihrer damals vorgegaukelten Toleranz so schwer und bleiern vorkommen, dass ich bei den heutigen Zeiten fast das Gefühl habe, so beschwingt und leicht habe es sich noch nie gelebt.
In diesen 80ern jedenfalls, die uns heute von jedem Dudelsender als eine unfassbar geile Zeit verkauft werden (Gottseidank wird auch das Publikum älter und man schaltet bei den Sendern allmählich auf die 90er um, die ja ebenfalls so unfassbar großartig waren) – in den 80ern also gab es etwas, was ich in meinem Umfeld immer als eine Mischung als Meinungsdiktatur und Gemütsterrorismus empfunden habe. Für irgendjemand, der gerade den Pubertäts-Quälereien entkommen war, war das eine echte Zwickmühle: Widerspruch zwecklos! „Man“ ist gegen Atomkraft, gegen Birne Kohl und die „Wende“, man ist ein bisschen links und ein bisschen öko und selbstverständlich nicht bereit, die Konsequenzen aus dieser Haltung tatsächlich auch zu ertragen. Alles in allem ist man ein wenig penetrant besserwisserisch, unangenehm belehrend und derart meinungsstark (und fest!), dass es beinahe schon wieder zum Fürchten ist.
Vermutlich leide ich heute noch ein wenig darunter. Ich ertappe mich gelegentlich, innerlich Haltung anzunehmen, wenn solche Menschen mit absoluter moralischer Unfehlbarkeit das Gefühl vermitteln, grundsätzlich auf der richtigen Seite zu stehen. Beim Widerspruch gegen einen moralisierenden Radfahrer tue ich mich deutlich schwerer als bei einer halbrechten Dumpfbacke. Meine eigenen gelegentlich konservativen Haltungen verteidige ich deutlich unentschlossener und defensiver als eine moralisch einwandfreie (doch, ja, solche habe ich auch, wenngleich vermutlich viel zu wenige). Dass wir zuhause ein Auto stehen haben, einen TDI mit fast 200 PS noch dazu, versuche ich regelmäßig mit mir selbst auszumachen. Ich ertappe mich dann bei albernen Rechtfertigungen, weil ich ja weiß: zu sagen, dass es einfach mehr Spaß macht, ein solches Auto zu fahren, ist irgendwie bäh. Geht gar nicht. Und natürlich weiß ich auch, dass es kein einziges vernünftiges Argument gibt, das auf meiner Seite ist. Dafür habe ich einen Elektro-Rasenmäher und fahre kurze Distanzen mit meinem neuen Rad (kein E-Bike!). Gibt das wieder ein paar Karma-Punkte, um mich vor der Vorhölle zu bewahren?
Falls ja: Ich werde sie dringend nötig haben. Weil es jetzt dann bald in den Urlaub geht. Eine Flugreise, eine Langstrecke, in die (festhalten!) USA. Das ist das Land, von dem meine alten 80er-Freunde vermutlich sagen werden, dass sie es schon immer gewusst haben: Sowas wie Trump kann nur in diesem Land passieren! In dieser gottlosen Wüste menschlicher Kultur, wo die Menschen komisches Zeug essen, flach und oberflächlich sind und dem wir fettige Burger, fette Bürger und die 2,5-Liter-Cola zu verdanken haben.
Deswegen jetzt erstmal die politisch-moralisch korrekte Haltung: Natürlich sind die USA ein Land, das sich inzwischen am Rande des politischen Ruins bewegen und ein Land, das einen Kommunkationschef hat, der so obszön daherredet, dass man es in einer halbwegs familienfreundlichen Zeitung nicht drucken und im Radio kaum senden kann, was man soll man dazu noch sagen? Die Amis fressen sich buchstäblich zu Tode mit ihren Burgern und Pancakes und ihrer Cola und außerdem amüsieren sie sich zu Tode, wie schon Neil Postman in den 80ern geschrieben hat. Mt ihrem ganzen Cable-TV-Kram, mit Fernseh-Hasspredigern und mit Fox News und Fernsehpfarrern. Es ist naheliegend, dass am Ende ein Mann Präsident wurde, der ein Produkt dieser Welt ist und der eine Show moderierte, deren Höhepunkt darin bestand, wenn er jemand „You are fired!“ hinterherrief. Die USA ist einer der ungerechtesten Welten, die man sich vorstellen kann und so etwas wie eine gesunde Mitte kennen sie dort auch nicht. Man ist entweder sagenhaft reich oder bitterarm, man ist schwarz oder weiß. Und einen größeren Gegensatz als Trump und Obama kann man sich auch kaum vorstellen.
Erstaunlicherweise leben sie dort immer noch ziemlich gut mit all diesen Dingen, die aus unserer mitteleuropäischen Sicht völlig unvorstellbar sind. Ebenso erstaunlich ist, dass es in den USA zumeist ausgesprochen freundlich zugeht. So freundlich, dass einem der Durchschnittsdeutsche auf einmal furchtbar miesepetrig vorkommen muss. Außerdem legt niemand den Begriff der Toleranz und der Freiheit so großzügig aus wie der Amerikaner, auch wenn er das manchmal auf seine sehr eigene Weise tut. Dort darf man beinahe alles tun und sagen was man will und allergrößten Respekt hat der Amerikaner vor denjenigen, die aus dieser Freiheit auch was machen. Wenn die USA das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind, dann ist Deutschland das Land der unmöglichen Begrenztheiten.
Vermutlich hat dieses Gefühl der Freiheit auch mit der Weite dieses Landes zu tun. Wenn man in paar Stunden auf einem amerikanischen Highway unterwegs ist, ohne allzu vielen Leuten zu begegnen, wenn man fährt und fährt und fährt, ohne dass die Fahrt ein Ende zu haben scheint, stellt sich automatisch dieses Freiheitsgefühl ein, das man wiederum kaum bekommt, wenn man auf einer deutschen Autobahn von, sagen wir, Nürnberg nach Kassel fährt.
Und deswegen ist das immer noch das größte Land der Welt für mich. Trotz Trump und „The Mooch“, trotz aller Dinge, die wir Deutsche nie verstehen und deshalb auch nie tun würden. Trotz Burgern, Bacon und Rühreiern zum Frühstück, mit Plastikbesteck und einer Unmenge von späterem Müll serviert, der konsequenterweise auch nicht getrennt, sondern irgendwo verbrannt oder vergraben und dann zumindest vergessen wird. (Außerdem habe ich eine echte, beglaubigte Heiratsurkunde aus den USA in meinem Besitz; nicht so einen Las-Vegas-Krempel, sondern so richtig und echt. Das verbindet, lebenslänglich sozusagen).
Im August (also: jetzt dann sehr bald) geht es wieder rüber. Und ich verspreche euch jetzt schon, dass ich euch wieder nerven werde, mit Fotos, Videos und Geschichten aus diesem einmaligen, verrückten, fürchterlichen und großartigen Land.
Werde ich jetzt rechts, weil mich links so nervt?
Vor ein paar Jahren, als ich allmählich beschloss, jetzt wirklich mal etwas älter zu werden, habe ich mich durch ein Buch von Jan Fleischhauer gequält. Es heißt „Unter Linken – von einem, der aus Versehen konservativ wurde“.
Gelesen habe ich es quasi als Vorbereitung aufs Älterwerden und genau genommen habe ich es auch nicht gelesen, sondern mich eher durchgequält. Ich fand es alles in allem eher unlustig und konnte der Aussicht, später mal zwangsweise konservativ zu werden, nicht sehr viel abgewinnen. Außerdem war ich damals der Auffassung, dass Haltung Haltung ist und dass man die nicht einfach wegwirft wie ein altes Lacoste-Shirt (sowas machen eben nur Konservative). Ich hatte mich selbst irgendwo in eine linksliberale Ecke verortet und auch nicht vor, diese jemals zu verlassen. Was man halt so denkt, wenn man noch mitteljung ist und meint, alles im Leben würde für immer so bleiben wie es jetzt gerade ist.
Ein paar Jahre später, ich war dann nicht mehr ganz so jung, habe ich selbst ein Buch zum Thema Älterwerden geschrieben (Der 40jährige, der aus dem Golf stieg und verschwand).
Ich bemühte mich während des gesamten Schreibens, bloß nicht allzu Fleischhauerig zu klingen. Oder, noch schlimmer, wie Matthias Matussek, der seinen Wandel zum reaktionären Kauz ausführlich und öffentlich zelebriert. Überhaupt fand ich es etwas albern, wie man alternden Männern dabei zuschauen konnte, wie sie immer verbohrter, langweiliger, erwartbarer wurden. Konservativ eben. Rechts, die Seite, auf der man als halbwegs anständiger Mensch völlig unmöglich stehen kann.
Davon abgesehen haben solche Typen immer die gleiche Attitüde, egal ob sie nun noch links oder doch schon wieder ganz rechts stehen: Sie sind immer enorm überzeugt von sich selbst und ihren Meinungen. Jemandem wie Matussek ist es völlig egal, welche Position er gerade vertritt, er findet sie in jedem Fall richtig. Und sich selbst natürlich auch.
Ich war mir zudem völlig sicher, dass ich nie, nie, nie im Leben Sätze sagen werde, die Männer (und vor allem: Väter) meines Alters gerne sagen. Dumm nur, dass ich mittlerweile wahrscheinlich alle gesagt habe, außer: So lange Du Deine Füße unter meinen Tisch…der ist meine letzte moralische Bastion, die Grenze, die Rote Linie, die auf keinen Fall überschritten werden darf.
Aber sonst? Ich finde Teenager und inzwischen sogar manchmal junge Studenten gelegentlich grässlich. Ich finde, es fehlt ihnen an Disziplin und an Allgemeinwissen und an ungefähr allem anderen auch. Ich finde, dass an unseren Schulen gelegentlich völlig irrsinnige Zustände herrschen und fühle mich immer dann bestätigt, wenn mir meine Frau, zufällig Lehrerin, von ihrem Alltag erzählt. Über manche Gerichtsurteile schüttele ich den Kopf, weil ich sie für viel zu milde halte und…
STOP!
Immer, wenn ich mich bei diesen Gedanken ertappe, schüttele ich über mich selbst den Kopf. Ich rede daher wie mein Vater in seinen schlimmsten Zeiten und der war immerhin Berufssoldat. Das geht doch völlig unmöglich, dass man das wird, was man nie werden wollte, denke ich mir. Gut, das ist alles inzwischen 35 Jahre her und man kann sich selbst damit entschuldigen, dass man in den Jahren zwischen Pubertät und Halberwachsenemtum eine ganze Menge Unfug sagt, den man später nicht nur korrigieren darf, sondern ganz dringend sogar korrigieren muss. Unbelehrbarkeit und die Unfähigkeit, auch mal dazuzulernen, das sind schließlich keine Eigenschaften, die von übermäßiger Reife zeugen.
Die große Sorge: Mache ich jetzt den Fleischhauer?
Und jetzt gerade sitze ich hier und staune immer noch. Über die zurückliegenden Tage in Hamburg beim G20-Gipfel und mein eigenes Unverständnis für die Welt. Ich bin mir absolut nicht mehr sicher: Haben jetzt alle anderen einfach ein merkwürdiges Weltbild entwickelt oder habe ich mittlerweile eines, das zwar vom Matussek noch sehr weit entfernt ist, sich aber bedenklich dem Fleischhauer annähert? Ich ertappe mich beispielsweise dabei, dass mich ein Typ wie der Anwalt der Roten Flora in Hamburg um den Verstand bringt, wenn er solche Sachen sagt, die sinngemäß bedeuteten, dass ein bisschen Krawall und Randale völlig ok sind, aber nicht im eigenen Viertel.
Warum nicht in Blankenese oder in Pöseldorf? Rote Flora-Anwalt-Andreas Beuth hat kein Verständnis für die Randale im eigenen Viertel. #G20 pic.twitter.com/NGp9be2fpm
— NDR.de (@ndr) July 8, 2017
Und ich könnte kotzen, wenn selbst meine heißgeliebte „Süddeutsche“ schreibt, dass es zwar formal betrachtet schon ok sei, wenn die Polizei Vermummte demaskieren will, man aber dennoch das Gefühl nicht loswerde, dass es „der Staat“ irgendwie auf eine Eskalation der Gewalt abgesehen habe. Ist klar, Kollegen: Man nennt eine Veranstaltung „Welcome to Hell“, rückt vermummt und mit Pflastersteinen in der Hand an – aber die Polizei hat es auf Eskalation angelegt. Vermutlich deswegen, weil es so viel Spaß macht, sich mit einer Horde vermummter, austrainierter und bewaffneter junger Männer zu prügeln.
Einer meiner Facebook-Kontakte hatte sogar einen Beitrag mit dem dämlichst möglichen aller dämlichen Titel geschrieben: Quo vadis, Rechtsstaat? Grundsätzlich habe ich ein Problem damit, Beiträge ernst zu nehmen, die mit „quo vadis“ beginnen. Der war aber ganz besonders unsinnig: Hamburg wird von einer vierstelligen Zahl vermummter Chaoten gebrandschatzt – und wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir überhaupt noch in einem Rechtsstaat leben.
Aus der „linken“ Ecke, von der ich vor Jahrzehnten dachte, man gehöre ihr als halbwegs denkender Mensch qua Geburt an, habe ich noch vieles anderes Verstörendes gehört in diesen Tagen. Das sehr linke „Neue Deutschland“ schrieb, eigentlich hätten die Chaoten ja nur ein kleinbürgerliches Idyll mit den ganzen Mittelklassewagen zerlegt. Eine nicht ganz unbekannte Feministin wunderte sich bei Facebook, dass sich ganz Deutschland über ein paar brennende Autos aufrege, niemand aber über Zehntausende Männer, die regelmäßig ihre Frauen krankenhausreif prügeln. Ich lese, dass die Polizei-Strategie gescheitert sei und dass „die Politik“ es ja auch ein bisschen selber darauf angelegt habe: Ein Gipfel in der Großstadt Hamburg, das müsse ja schief gehen. Notabene: Vor zwei Jahren haben sich die Gegner solcher Veranstaltungen aufgeregt, als der G8-Gipfel im ganz und gar ungroßstädtischen Schloss Elmau stattfand.
Ab und an ertappe ich mich dennoch bei einem gefühlten inneren Zwang: Ich muss solche Positionen doch wenigstens halbwegs richtig finden. Oder zumindest keine völlig entgegengesetzte Position einnehmen. Weil das ja so eine Art Verrat wäre. An mir selbst und an der Kultur, in der ich vermeintlich aufgewachsen bin. Ist das nicht außerdem Opportunismus und weiß Gott nicht alles Schreckliche, wenn man in diesen Kategorien denkt?
Antworten darauf habe ich keine. Nur eine Ahnung: Fürs Erste werden mich diese Fragen noch eine ganze Zeit beschäftigen. Spätestens dann, wenn man mal wieder ein paar Teenagern Standpauken halten muss.
Im Bahn-Wahn: Kein Anschluss unter diesem Fahrplan
Gerade eben lese ich übrigens ein Buch über Stoizismus. Es ziemlich gut, vor allem, weil es weit entfernt ist vom Kalendersprüche-Niveau. Oder diesen grässlichen Postings mit völlig sinnentleerten Lebensweisheiten, die immer wieder mal durch Facebook geistern und die von den nachdenklichen Sprüchen mit Bildern regelmäßig wunderbar persifliert werden. Müsste man die knapp 400 Seiten des Buches in einem Satz zusammenfassen, er würde lauten: Reg dich nicht so auf!
Das ist eine ziemlich gute Empfehlung, weil es in den meisten Fällen ja tatsächlich eher wenig bringt, wenn man sich aufregt. Die Kinder benehmen sich deswegen auch kein Stück weit besser, die Kollegen nerven immer noch und nicht mal ein Fußball-Ergebnis kann man dadurch korrigieren, indem man möglichst laut rumbrüllt, auch wenn lautes Rumbrüllen zweifelsohne zum Fußball auch mal dazu gehört.
Manchmal hilft aber weder der gute Vorsatz etwas noch die Lektüre über die Grundlagen des Stoizismus. Vor allem dann nicht, wenn es um Firmen geht. Oder Behörden. Oder, am Schlimmsten, große Firmen, die mal Behörden waren. Die Telekom. Oder, wirklich eine Herausforderung, die Bahn. Ich mag mir lieber nicht vorstellen, was herauskommt, wenn irgendjemand die Finanzämter privatisiert. Oder man am Ende einen Termin in einem privatisierten Finanzamt hat, den man sich via Telekom-Anschluss ausgemacht hat und der nur per Bahn erreichbar ist. Das hält kein Stoiker dieser Erde mehr aus.
Es lässt sich dummerweise aber nicht vermeiden, ab und an mal mit der Bahn zu fahren (oder mit der Telekom und dem Finanzamt zu tun zu haben). Diese Woche also wieder eine Fahrt mit der Bahn. Als erfahrener Bahnfahrer, technikaffiner Mensch, Stoiker und Skeptiker zugleich sind bei mir sogar kurze Fahrten (in dem Fall: gut 100 km) mit einem logistischen Großaufgebot vorbereitet.
Falls Sie mitschreiben oder selbst noch was fürs Bahnfahrer-Leben lernen wollen, hier die Liste:
- Bahn-App
- bahn.de (ab und an unterscheiden sich die Angaben in der App und auf der Webseite)
- Twitter-App (damit man bei der Bahn im Zweifelsfall nachfragen kann)
- Blick auf die analoge Anzeigetafel im Bahnhof
So war das auch diese Woche, auch wenn im mich für einen kurzen Moment selbst für zwangsneurotisch gehalten habe. Bis kurz hinter Augsburg war dann auch alles gut, so weit man bei der Bahn von gut sprechen kann. Dann die Durchsage: Wegen Bauarbeiten wird der Zug irgendwo in der Pampa gestoppt und durch Schienenersatzverkehr ersetzt (nebenbei: gegen die Abkürzung SEV habe ich inzwischen Aggressionen entwickelt, wenn ich sie nur sehe).
Und wie das gerne so ist bei der Bahn: Durchsagen über Alternativen und Anschlüsse? Fehlanzeige. Personal im Zug? Niemand. Irgendjemand am Pampa-Bahnsteig, der sich auskennen könnte? Ach woher. Der Busfahrer im SEV? Hatte auch gerade eben erst erfahren, dass er fahren muss.
Deswegen die Frage bei der Bahn und bei Twitter: Was ist da los? Die Twitter-Kollegen der Bahn haben dann das selbst für Bahn-Verhältnisse außergewöhnliche Kunststück fertiggebracht, innerhalb von 30 Minuten drei komplett widersprüchliche Antworten zu geben.
Antwort 1:
Zu einem SEV liegen mir auf der Strecke keine Infos vor. Wurde denn mitgeteilt, warum es SEV gibt? /ni
— DB Personenverkehr (@DB_Bahn) June 29, 2017
Kurz darauf:
Dieser SEV ist aber im Fahrplan hinterlegt. Auch in der App wird dieser angegeben. /ni
— DB Personenverkehr (@DB_Bahn) June 29, 2017
Erstaunlich: Erst keine Infos über SEV, fünf Minuten später: Steht doch im Fahrplan! Also schicke ich einen Screenshot mit, aus dem eindeutig hervorgeht, dass im Fahrplan keine Rede von einem SEV ist.
Deswegen dann die nächste Variante: Was ich denn wohl hätte, der Zug sei doch ganz pünktlich angekommen (anscheinend hält man mich, der dauernd versucht, eine 45minütige Verspätung bekanntzugeben, für einen ordentlichen Spinner).
Nach meinen Infos ist RE 59130 von Augsburg nach Donauwörth gefahren und kam dort um 17.58 Uhr an. Nachfolgende Verbindung ist mit SEV /ni
— DB Personenverkehr (@DB_Bahn) June 29, 2017
Nein, schreibe ich, ist er nicht, ich saß ja drin im Zug. Das überzeugt dann auch den Twitter-Menschen der Bahn, der sich zu einer Art Resignation hinreißen lässt:
Merkwürdig, dann stimmen auch nicht die vom Zug übermittelten Echtzeitdaten. /ni
— DB Personenverkehr (@DB_Bahn) June 29, 2017
Am Ende stehe ich also da mit meiner inzwischen knapp einstündigen Verspätung, habe der Bahn erklären dürfen, dass ich kein Spinner bin – und vermisse bei alledem immer noch ein einziges kleines Wort, mit dem die Sache viel leichter zu erledigen gewesen wäre:
Entschuldigung.
Aber vermutlich ist das zu viel erwartet von Behörden oder sehr großen Firmen, die mal Behörden waren.
Phil Collins und der Club der toten Adabeis
Vermutlich hat Phil Collins bei seinen nun abgeschlossenen Konzerten in Köln nicht das Publikum gehabt, das er verdient gehabt hätte. Möglicherweise bekommt sogar kein Künstler, der ein Publikum jenseits der 40 anzieht, das ihm gebührende Publikum. Weil solche Konzertbesuche gerne ausarten in ein Adabei-Event.
Adabei ist eine bayerische Dialekt-Verballhornung und heißt so viel wie: Auch dabei gewesen. Mit dem Begriff bespöttelt man ein Publikum, das sich für die eigentliche Veranstaltung nicht wirklich interessiert, sondern das eben auch nur dabei gewesen sein will. Ich war bei Phil Collins, GunsNRoses, den Stones, Depeche Mode. Man findet ein solches Publikum natürlich auch anderswo, im Fußball in einer Lounge in der Allianz Arena oder auf den wirklich teuren Plätzen der Champions League oder einer Fußball-WM.
Hier gilt das Prinzip: Nicht einfach nur dabei gewesen sein, sondern möglichst teure Plätze ergattern. Beim bedauernswerten Phil Collins haben sie irgendwann mal mit der Publikumskamera unbeabsichtigt ein sehr spezielles wie typisches Exemplar der Adabei-Gattung gezeigt: Irgendwas zwischen 40 und 50, front of the stage für rund 500 Euro. Front of the stage ist bei Konzerten in etwa das was beim Fußball die Loge ist. Da sitzt man ganz besonders teuer und man kann fest davon ausgehen, dort das ahnungsloseste Publikum anzutreffen.
Der mit der Kamera eingefangene Typ jedenfalls wurde bei einem herzhaften Gähnen in Großaufnahme gezeigt, als gerade die restlichen 15999 Zuschauer in der Arena so richtig in Fahrt kamen: Die ganze großen und mitklatschfähigen Collins-Nummer laufen und unser Adabei mit dem 500 Euro-Ticket gähnt. Das in Großaufnahme ist die gerechte Strafe für jemanden, der zeigen will, dass er es zu so viel Kohle gebracht hat, sich bei Phil Collins (oder sonstwo, ist ja auch egal, Hautsache Event) front of the stage leisten zu können.
Vermutlich gehören solche Leute zu dieser Kategorie, die die Amerikaner in ihrem ausgeprägten Hang zum Sortieren upper middle class nennen. Vielleicht ein Vertriebler, ein Versicherungsmann, ein Geschäftsführer von irgendwas Mittelständlerischem. Die perfekte menschliche Nullnummer: überall dabei, aber nirgends mittendrin. Das sind solche Typen, die Musiker, Fußballer, Politiker oder Kinofilme gerne als „genial“ bezeichnen, ohne zu wissen warum und meistens sich selbst meinend.
In dieser Welt ist alles „genial“: Das neue Auto, die neue Freundin (von Ehefrauen trennen sich solche Typen gerne mal nach einer gewissen Zeit), Phil Collins, der FC Bayern. Genial, drunter tun sie es nicht, vielleicht auch wegen mangelndem Vokabular und dem Gefühl, man müsse die eigene Überlegenheit gegenüber dem nicht ganz so genialen Rest der Menschheit auch durch die Verwendung des Begriffs genial unterstreichen. Die gehen nicht zu Collins oder den Bayern wegen der Musik oder des Fußballs, sondern weil es Branchenführer sind, für die man schwer Tickets bekommt.
Wenn übrigens den Verwendern des Begriffs „genial“ nichts mehr einfällt, nennen sie eine Sache „Kult“. Das ist genauso nichtssagend, aber die klassenmäßig unter den Adabeis angesiedelten Leute wissen: Wenn der Adabei genialen Kult für 500 Euro gesehen hat, muss man die Waffen strecken und ihn einfach nur kultig genial geil finden.
Ich würde übrigens an dieser Stelle gerne betonen, dass ich das Publikum bei Phil Collins herzlich verachtet habe, selbst diejenigen, die nicht mit den 500-Euro-Tickets rumstolzierten. Das ist zwar etwas blöd, weil es sich dabei vorwiegend um meine eigene Generation handelt und irgendjemand mir den Vorwurf machen könnte, ich müsste mich so gesehen ja auch selbst ein bisschen verachten. Trotzdem muss man sich das wirklich mal vor Augen führen: Da gehen Menschen in ein Konzert, kaufen sich einen Teller Nachos mit klebriger Soße, bestellen sich ein Eis auf den Sitzplatz und laufen mit Plastik-Piccolos durch die Gegend.
Davon abgesehen sieht an bei einem solchen Konzert mit der eigenen Generation jede Menge Figuren, denen man vermutlich im echten Leben bei Banken, Versicherungen oder in Finanzämtern und damit tendenziell eher ungern begegnet. Der deutsche Mainstream, irgendwas zwischen 40 und 50. Meine eigene Generation, bei der man sich dann fragt, wie es nur soweit kommen konnte. Das fragt man sich bei sich selbst zwar auch gelegentlich. Aber ich kann mich selbst in solchen Momenten wenigstens damit beruhigen, nicht in einer Versicherung zu arbeiten, keine Kurzarmhemden zu tragen, bei Fußballspielen gerne da zu sein, wo die Stimmung ist und Konzerte immer noch wegen der Musik zu besuchen und bei den meisten sogar halbwegs textsicher zu sein.
Mr. Collins hat übrigens, um das wenigstens noch zu erwähnen, ein wirklich sehr, sehr schönes und berührendes Konzert gespielt. Vor allem im ersten Teil, in dem er sich ein paar Sachen rausgepickt hat, die nicht zu den Standards gehören und mit denen er die genialen Adabeis vermutlich etwas verschreckt hat. Das großartige „Hangin in long enough“ beispielsweise oder „You know and I know“.
Die Guten im Publikum, die es natürlich auch gegeben hat, waren vermutlich ziemlich berührt, als dieser alte, gebrochene und gebückte Mann, der eher zufällig noch am Leben ist, die Bühne betreten und sich auf seinen Stuhl gesetzt hat und dann zu singen begann, mit dieser immer noch einmaligen Stimme, die man nicht mögen muss, die aber eben einmalig ist. Der Mann hat große Popmusik geschrieben, sie gespielt, gesungen – und schließlich auch noch den zweitbesten Schlagzeuger der Welt mitgebracht: Nicolas Collins, seinen 16jährigen Sohn, der ein derart unfassbares Talent mitbekommen hat; so unfassbar, dass es der Adabei genial nennen würde.
Am Ende gehen sie dann alle wieder raus, in ihre Banken, Versicherungen oder Mittelstands-Firmen. Am Montag, Schlag 8, beginnt der Alltag wieder und sie werden ihre Umgebung beeindrucken mit den Erzählungen aus der front of the stage.
Collins, der alte Schelm, hat seine Biografie und seine Tour Not dead yet genannt. Etwas, was leider ein beträchtlicher Teil meiner Generation nicht von sich behaupten kann.
Wir feiern die Helden und zelebrieren uns selber
Good old Phil. Es ist dasselbe Spiel wie bei vielen großen Musikern. Phil Collins ging irgendwann mal ziemlich vielen Leuten ziemlich auf die Nerven. In dieser Zeit, es muss irgendwann in der Mitte der 80er gewesen sein, gehörte eine ganze Menge Zivilcourage dazu um zuzugeben, dass man Collins gut fand. Im Pop-Feuilleton war der Mann ohnehin unmöglich. Und selbst heute kenne ich noch Menschen, die sich in linksliberaler Milieu-Arroganz darin gefallen, böse, böse Sachen über Collins zu sagen. Heute ist mir das wurscht, weil ich finde, dass ein Tweet, in dem lediglich „Ich hasse Phil Collins“ steht, höchstens von der Einfalt seines Verfassers zeugt.
Und außerdem: Heute, im sehr weit fortgeschrittenen Alter, ist es mir vollkommen scheißegal, was irgendwelche Pop-Feuilletonisten und Social-Media-Gestalten schreiben. Collins ist ein ganz Großer und ich mag ihn. Punkt.
Das Schöne in meinem Alter ist übrigens, dass man nicht mehr nach Rechtfertigungen und Erklärungen suchen muss, warum das so ist. Erspart jede Menge Diskussionen, vor allem mit solchen Leuten, die mir mit heiligem Ernst erklären wollen, warum das jetzt keine wirklich gute Musik ist. Geht mir übrigens genauso mit Büchern, Filmen und dem Rest des Lebens.
Seit Montag also spielt Phil Collins in Köln, ich fahre am Freitag hin. Und ich staune: Darüber, wie viele Leute aus meiner Timeline ganz sentimental darüber posten, wie großartig so ein Abend mit Phil Collins ist. Und wie sehr sie dahinschmelzen, wenn so ein Brett wie „Against all Odds“ läuft. Für ein solches Bekenntnis wäre man vor 30 Jahren in die Ecke gestellt worden. Mit Eselskappe drauf und bei den uncoolen Jungs. Aber seit selbst sogar ganz harte Rapper Collins als ihr Idol bezeichnen, hat er auf einmal ordentlich Credibility. Und schließlich sagte schon der ganz großartige Lemmy Kilmister mal:
„Ich meine, wenn Mikkey sich mal das Gehirn wegsaufen sollte kurz vor einem Auftritt, und angenommen, Phil Collins mit seinem lustigen Gesicht sitzt also zufällig in der Garderobe nebenan, okay? So. Und ich bitte ihn nun sehr, seeeehr höflich um Hilfe – wissen Sie was: Der spielt ein komplettes Set von Motörhead! Unfallfrei! So ist das. Ich ziehe meinen Hut.“
Es gibt also Hoffnung für uns alte Männer und unser Leben. Wenn die Geschichte jetzt zunehmend den Hut vor unseren Helden zieht und wenn man sich inzwischen sogar wieder zu Phil Collins bekennen darf, ist unser Leben vielleicht doch nicht so missraten gelaufen, wie man zeitweise hätte meinen können, als man selbst irgendwie in den Untiefen von Midlife-Krisen irrlichterte und gleichzeitig an jeder Straßenecke zu hören bekam, welch trauriges Leben man geführt hatte. Mit Phil Collins! Als Held der frühen Jahre!
Man sieht momentan überhaupt ziemlich viele Sachen, die mit Revival, Nostalgie und good old times zu tun haben. Depeche Mode waren da (und ich auch), sogar GunsNRoses, von denen man dachte, dass sie never in a lifetime nochmal zusammen auf einer Bühne stehen würden. Die Stones kommen noch in diesem Jahr, letztes Jahr war Beatles-Counterpart Paul McCartney hier. Die Pop-Feuilletonisten sehen das natürlich als reine Geldschneiderei, was es bei Ticketpreisen von bis zu 800 Euro bei den Stones ja auch ist.
Aber viel wichtiger ist: Wir wollen noch mal back in time, egal wie alt wir sind. Für die einen, die jüngeren nämlich (irgendwas so Mitte 30) ist es nochmal ein kleiner Minimal-Ausbruch, bevor es dann zurück geht ins Reihenmittelhaus in der Schlafstadt. Erst GunsNRoses, dann Kinder hüten und am nächsten Tag wieder brav in die Arbeit gehen und sich dann langsam auf die bevorstehende Midlife Crisis vorbereiten.
Wir Alten dagegen mögen die Rotzigkeit, mit der sich diese ganzen Saurier dem Ende entgegenstellen. Axl Rose wiegt 200 Kilo und sieht aus wie ein Kloß? Phil Collins kann nur noch im Sitzen singen, Keith Richards kommt daher wie der Tod persönlich? So what, fuck you! Die leben immer noch. Und diejenigen unter den alten Helden, die nicht mehr unter uns sind, haben wenigstens bis zum Schluss ihren Spaß gehabt. Lemmy hat Konzerte gespielt, bis es wirklich gar nicht mehr ging. Und Bowie hat einer seiner besten Platten überhaupt eine Woche vor seinem Tod rausgebracht.
Zwischendrin hüpft Dave Gahan wie ein Derwisch über die Bühne. Hat einen Selbstmordversuch überlebt und einen Drogen-Cocktail, nachdem er zwei Minuten lang klinisch tot war.
Wir Alten mögen solche Geschichten, weil wir hoffen, dass unsere eigenen ähnlich gut ausgehen. Niemand von uns hat tödliche Cocktails getrunken und auch nur im Ansatz das mitgemacht, was Lemmy und Bowie und Keith und vermutlich auch Phil Collins hinter sich haben. Aber trotzdem will niemand von uns als boring old fart enden. Deswegen rennen wir auf diese Konzerte, spendieren Standing Ovations für einen Collins, der nicht mal mehr laufen kann und trotzdem auf dieser verdammten Bühne steht und singt; Instrumente spielen kann er ja nicht mehr. Deswegen ist es uns egal, dass GunsNRoses, Collins, McCartney und die Stones ihre letzten wirklich brauchbaren Platten vor 30 Jahren gemacht haben (Depeche Mode sind die löbliche Ausnahme, deren Alben sind immer noch gut, aber die Jungs sind ja auch erst Mitte 50).
Und am Ende denkt man sich: Ok, ihr Mittdreißiger, dann schlaft mal schön weiter, haltet ein Konzert-Event nochmal für ein letztes wohlverdientes Ausbrechen vor dem unvermeidlichen Erwachsenen-Alltag und geht dann wieder zurück in den Steinbruch. Wir hingegen, die wir wissen, was es heißt, ein Leben mit Brüchen geführt zu haben, wir feiern einfach weiter, weil die Zeit der Krisen, die ihr mit Erwachsenwerden verwechselt, lange vorbei ist.
Einmal in den Kopf eines Finanzbeamten schauen…
Manchmal, wenn ich zu viel Zeit habe, dann denke ich über die Frage nach, was einen Menschen bewegen könnte, den Beruf eines Finanzbeamten zu ergreifen. Ich frage mich dann beispielsweise, wie er vor sich selbst und anderen begründet, was er an diesem Job so geil findet: vielleicht die viele Abwechslung, die jährlich wechselnden und immer bizarrer werdenden Steuergesetze (auf Babynahrung 19 Prozent, auf Tierfutter 7 Prozent). Oder der gute Ruf, der diesem Job vorauseilt. Man ist vermutlich Mittelpunkt jeder Party, wenn man auf die Frage „Und was machst du so?“ mit unnachahmlicher Coolness hinwerfen kann: Finanzamt!
Vielleicht ist es aber auch der Machtfaktor. Die mächtigsten Menschen der Welt sind Finanzbeamte, da kann mir jeder erzählen, was er will. Finanzbeamte haben immer Recht und Finanzbeamte können in jedem noch so unverschämten Ton mit Menschen reden, der ihnen gerade einfällt. Natürlich könnte man sich darüber beklagen. Aber vom Steuerberater seines Vertrauens bekommt man ganz sicher den selbstverständlich inoffiziellen Hinweis, dass es ziemlich dumm wäre, es sich jetzt mit dem Finanzamt zu verscherzen.
Trotzdem muss ich loswerden, was schon seit Jahren auf meiner Seele lastet: Von den 10 unfreundlichsten Menschen, die mir jemals begegnet sind, waren 9 Finanzbeamte. Zur Ehrenrettung dieser sehr speziellen Spezies muss ich sagen, dass in meinem ganz persönlichen Unbeliebtheitsranking mit hauchdünnem Abstand hinter den Finanzbeamten sofort Banker kommen. Ich scheue mich nicht, Bankern auch ins Gesicht zu sagen, dass ich sie für die unmittelbaren Nachfahren der Pest halte. Banker lassen das aber an ihrer aalglättegestärkten Haut abprallen, so dass Banker wenigstens noch freundlicher sind als Finanzbeamte. Auch wenn es natürlich keine echte Freundlichkeit ist, sondern zur Bankeruniform gehört wie die albernen Kostümchen für die Damen und die Kurzarmhemden samt meistens eher geschmackloser Krawatte für die Herren.
Aber selbst da, beim Thema grässliche Klamotten, nehmen Finanzbeamte gerne einen Spitzenplatz ein. Ab und an habe ich so ein leibhaftiges Finanzamt auch schon mal betreten. Was mir da zu Augen kam, war im Regelfall eine optische Beleidigung. Männer in Hawaii-Hemden und Birkenstock-Latschen beispielsweise. Oder Frauen mit Klamotten, die vermutlich nur noch in Nordkorea hergestellt werden.
Wenn man ein Finanzamt betritt (manche residieren übrigens, kein Witz: in einem Schloss), wird man das Gefühl nicht los, hier verlaufe das Leben in Zeitlupe. Wenn dort jemand Schweißflecken unter dem Armen hat, dann muss die Klimaanlage ausgefallen sein, an übermäßig schneller Bewegung kann es jedenfalls nicht liegen. Ansonsten zieht man Nummern, wartet sehr lange auf irgendwas und irgendjemand und kommt sich schon bei der puren Anwesenheit nicht mal mehr wie ein Bittsteller vor. Sondern wie irgendetwas Schlimmeres. Ein Bittsteller dürfte ja wenigstens eine Bitte stellen und darauf hoffen, dass das Erfolg hat. Beim Kontakt mit Finanzämtern gilt nur eines: Irgendwie schauen, dass man möglichst unbeschädigt wieder rauskommt.
Ich habe übrigens ernsthaft mal gegen eine Entscheidung eines Finanzamtes Einspruch eingelegt. Das steht mir zu, so wie jedem anderen auch. Dachte ich zumindest. Nach einigermaßen langer Wartezeit habe ich dann ein Schreiben des Finanzamtes bekommen, ob ich meinen Einspruch nicht zurückziehen möchte. „Nie im Leben“, dachte ich mir, griff zum Telefon, erwischte eine erwartungsgemäß sauunfreundliche Sachbearbeiterin und fragte die dann, warum ich das machen solle. Antwort: Chancen hätte mein Einspruch ja ohnehin nicht, und dann müsste das Finanzamt wenigstens keine Begründung schreiben, warum der Einspruch abgelehnt wurde.
Hab ich natürlich nicht gemacht. Und wenn du bis ans Ende deines Lebens an dieser Begründung schreibst, habe ich mir gedacht. Nicht wissend, wie nah ich an der Realität war: Nach zweieinhalb Jahren kam die Begründung. Vermutlich war das für die Verhältnisse eines bayerischen Finanzamtes ziemlich schnell und wahrscheinlich hassen sie mich seitdem dort. Der Ton der Finanzamts-Briefe ist jedenfalls deutlich unfreundlicher geworden, sofern das noch geht.
Überhaupt, der Ton: Regelmäßig nach dem Erhalt eines Finanzamts-Schreibens muss ich meine Steuerberaterin anrufen und sie fragen, was das überhaupt bedeuten soll. Manchmal verstehe ich, manchmal nicht. Trotzdem, denke ich mir manchmal, trotzdem wäre es ja keine so schlechte Idee, wenn man Schreiben so formulieren würde, dass sie auch ein normaler Mensch außerhalb des Mikrokosmos einer Finanzbehörde verstehen kann. Und wenn man schon dabei ist, könnte man tatsächlich auch am Ton arbeiten, der in den meisten Fällen an Gefängnisaufseher erinnert.
Aber vermutlich kann man da lange an Finanzbehörden und Ministerien einreden. Ein freundlicher Ton? Von einem deutschen Finanzamt? Was soll das bringen und wo kämen wir da überhaupt hin? Geht ja hier schließlich nicht um Kunden, sondern um „Steuerpflichtige“, wie das im Behördendeutsch so schön heißt.
Irgendwann mal, so viel weiß ich sicher, irgendwann finde ich es raus. Was in den Köpfen von Finanzbeamten vorgeht.
Und wenn ich das geschafft habe, sind als nächstes die Banker dran.
Was ist nur aus dem Fußball geworden?
Natürlich dürft ihr, wenn ihr euch für Fußball interessiert, leidenschaftliche Hasser von 1860 München sein. Ihr dürft sie mit aller Häme überschütten, zu der ihr fähig seid. Oder sie einfach nur belächeln. Aber bevor ihr das tut, lest diesen Text. Nicht, dass es euch auch mal so geht…
Irgendwann mal muss sich Hasan Isamik gedacht haben: Mist, gerade mal Mitte 30 und schon keine echten Ziele mehr im Leben. Der erste Milliardär Jordaniens (heißt es) und der jüngste sowieso. Vermutlich alles gekauft, was man mit angeblichen 1,5 Milliarden kaufen kann. Autos, Yacht, Flugzeuge, Häuser. Angeblich hat er sogar zwei Moscheen gebaut. Was also macht man, wenn man zudem im Konzert mit den anderen großen Jungs mitspielen will?
Man kauft sich einen Fußballverein. Hat man jetzt angeblich so.
Also sah sich Ismaik um, hörte irgendwas von München und Deutschland und einem Verein, der die Hilfe eines jordanischen Milliardärs gerade gut gebrauchen konnte, weil ihm sonst nämlich niemand mehr, der auch nur halbwegs bei Verstand war, noch helfen wollte.
Das neue Dreamteam also: ein beinahe restlos ramponierter Verein und ein ahnungsloser und erstaunlich naiver Investor. Die perfekte Geldverbrennungsmaschine.
Für Ismaik stand in den letzten sechs Jahren schnell fest, woran der ausbleibende Erfolg lag: Man ließ ihn einfach nicht so machen, wie er wollte (und wie er es aus seinem eigenem Imperium vermutlich gewohnt ist). Deswegen fand der Jordanier mindestens einmal pro Jahr, es müsse sich dringend etwas ändern. We need a new Sportchef, sagte er irgendwann mal. Und außerdem: a new Coach, a new President, a new Stadium. Man darf davon ausgehen, dass in den letzten Jahren immer wieder jemand versucht hat, Ismaik und seine Ahnungslosigkeit zu bremsen. Aber das sagt sich leicht, wenn man an dessen Tropf als Geldgeber hängt.
Weswegen Ismaik immer weiter machen durfte.
In dieser Zeit heuerte und feuerte der Verein, maßgeblich auf Druck Ismaiks:
10 Trainer, 9 Geschäftsführer, 7 Vizepräsidenten und 5 Präsidenten (keine Garantie auf Vollzähligkeit).
Geld alleine schießt keine Tore. Man braucht schon auch noch ein bisschen Hirn dazu. Bei den Löwen ist die einzigartige Mischung entstanden, mit der mit unglaublich viel Geld und unfassbar wenig Hirn Unmengen von Geld verbrannt worden sind. Angeblich hat der Investoren-Scheich bislang rund 60 Millionen versenkt. Dazu kommt ein vermutlich weiterer zweistelliger Betrag, wenn er wenigstens in der 3.Liga weiter mitspielen möchte (danach schaut es momentan aber eher nicht aus).
Woher das kommt? Alleine in diesem Jahr hat der Verein den dritt-teuersten Kader der 2. Liga gehabt. Vor der Saison und in der Winterpause wurden vermutlich alle Resterampen dubioser Spielerberater leergekauft. Die können ihr Glück vermutlich bis heute nicht fassen, wenn sie auf ihr Konto schauen und feststellen, dass sie für irgendwelche Ladenhüter aus der 2. portugiesischen Liga Millionensummen kassiert haben.
Glückwunsch übrigens in diesem Zusammenhang für den rekordverdächtigen Transfer eines gewissen Frank Boya: Der Mann hat angeblich im Winter gemeinsam mit der Nationalmannschaft Kameruns den Afrika-Cup gewonnen und wurde deshalb gleich mal eingekauft. Laut Wikipedia kam er direkt vom Weltverein Apejes FC de Mfou aus Yaoundé. Bestätigen kann dies in München leider niemand, weil Boya nie auf dem Platz gesehen wurde und es auf genau null (!) Einsatzminuten brachte. Immerhin soll er nicht so gekostet haben wie der Brasilianer Ribamar, der es bei einer Ablöse von drei Millionen nicht auf ein einziges komplettes Spiel brachte und vor der Relegation heimflog nach Brasilien.
Mit Vitor Pereira und seinem Stab wurde ein millionteures Trainer-Team engagiert. Dazu gehörten 5 Co-Trainer und ein Torwart-Trainer.
Mit Ian Ayre wurde der letztjährige „Manager des Jahres“ der Premier League vom FC Liverpool verpflichtet.
Undsoweiter. Undsoweiter.
Bei 1860, soviel lässt sich also mal sicher sagen, sind sie nicht daran gescheitert, zuwenig Geld gehabt zu haben. Sie haben zuviel gehabt. Und es ist sinn- und planlos ausgegeben worden, von Leuten, die für und von Fußball keinen Sinn und keinen Plan haben.
Was das alles mit euch zu tun hat?
So kann Fußball aussehen, wenn man ihn zum Business machen will. Wenn man Investoren die Macht übernehmen lässt, weil sie wenig Ahnung und sehr viel Geld haben. Wenn man meint, die 50+1-Regelung im deutschen Fußball sei eine antiquierte Dummheit Wenn man meint, man könne sich Mannschaften einfach zusammenkaufen, mit Spielern, Trainern und Managern aus der ganzen Welt. Wenn man dubiosen Beratern Millionen hinterherwirft.
Und wenn man vergisst, was die Seele des Spiels ist.
1860 war mal ein großer Verein. Mit Tradition, mit Identität, mit echten Münchner Wurzeln. Nichts mehr davon ist übrig.
Wenn man auch nur ein bisschen für Fußball übrig hat, muss man den Tag heute traurig finden. Selbst dann, wenn man alles andere als Sechzger-Fan ist.