Ich muss verrückt geworden sein: Ich habe mir tatsächlich eine Karte für 1860 München gekauft. Für ein Relegationsspiel. Der Drittletzte aus der 2. Liga gegen den Dritten aus Liga 3. Das wird nicht gerade Fußball für Feinschmecker sein, schon gleich gar nicht in einem Stadion, in dem sonst Weltmeisterschaft oder Champions League gespielt wird. Und schon dreimal nicht, wenn 1860 antritt. Eine Mannschaft, die in den letzten Jahren sportlich jeden Slapstick gezeigt hat, den man sich vorstellen kann.
Und ja, ich gebe es zu: Ich habe mich ab und zu in dieser Saison ertappt, 1860 den Abstieg gewünscht zu haben. Der Verein steht für alles, was ich am Fußball inzwischen tendenziell abstoßend finde. Er ist zum Spielball eines schwerreichen Investors geworden, der irgendwann mal gehört hat, dass so ein eigener Fußballverein in Deutschland ein ähnliches hübsches Statussymbol wie eine eigene Yacht ist. Ich vermute ja immer noch, dass ihm nur niemand gesagt hat, dass es in München zwei Vereine gibt und dass das nicht der FC Bayern ist, den er da gerade gekauft hat.
Aber egal, von Fußball versteht dieser Investor ohnehin nichts, weswegen alles das passiert, was passiert, wenn ahnungslose Investoren einen Verein übernehmen. Dann scharen sich gerne mal ein paar Berater um den schwerreichen Mann und sorgen dafür, dass er seine Kohle möglichst effizient verbrennt. Im Falle 1860 muss man sagen: gelungen, sehr gelungen. Alleine im Winter sind mit für Zweitligaverhältnisse sagenhaften Summen ein paar Leute geholt worden, von denen einer immerhin regelmäßig spielt, ein anderer aber dafür noch keine einzige Sekunde auf dem Platz stand (muss man auch erst mal hinbekommen).
Der Investor selbst führt seinen Laden – wie soll man es nennen? Erratisch? Diktatorisch? Ahnungslos? Oder alles zusammen? Jedenfalls fallen im regelmäßig so schöne Sätze ein wie „We need a new Sportchef“, was bedeutet, dass der bisherige Amtsinhaber das Ränzlein schnüren kann, weil demnächst ein neuer Mann da ist. Gefunden unter den diversen Leuten in den Führungsgremien des Vereins haben sich in den letzten Jahren u.a. ein gelernter Apotheker, der zufällig Cousin des Investors ist. Außerdem ein Mann, der im letzten Vierteljahrhundert als Geschäftsführer rund um den Globus tätig war, nur leider noch nicht in einem Fußballverein. Erste Amtshandlung, sehr nachvollziehbar in einem original Münchner Verein: Er erklärte Englisch zur Amtssprache. Sein Nachfolger wurde dann übrigens tatsächlich jemand vom FC Liverpool, was großes Erstaunen bei den Außenstehenden hervorrief: Wie verirrt sich eine Koryphäe eines Koryphäenclubs bei einem Abstiegskandidaten der 2. Liga in Deutschland? Inzwischen wird es mit dem Erstaunen vermutlich umgekehrt sein und er wundert sich darüber, wo er hier eigentlich gelandet ist.
Kurz, ausgerechnet 1860, den Gegenentwurf des globalisierten, dauererfolgreichen und durchgestylten FC Bayern, der macht alles, wofür man die Bayern verachten würde. Ein Investorenverein mit einer Söldnertruppe mit Spielern aus der ganzen Welt, einem jordanischen Herrscher, einem englischen Geschäftsführer und einem portugiesischem Trainer, der auf Englisch den denkwürdigen Satz sprach: We go to the top! Dumm nur, dass man jetzt erstmal den Abstieg in Liga 3 verhindern muss.
Ausgerechnet 1860 steht für alles, was man im Fußball als Fußballromantiker nicht sehen will. Ausgerechnet!
Ein guter Freund hat gerade einen Beschluss gefasst: ein Jahr lang Fußball-Boykott. Ok, in seinem Fall hat das auch damit zu tun, dass sein Herzensverein Borussia Mönchengladbach Dinge tut, die sonst eigentlich nur den Löwen passieren. Elfmeterschießen nach dem gefühlt 312. Elfmeter verlieren beispielsweise. Aber was uns eint: ein Unbehagen gegen einen Sport, der immer mehr zum langweiligen Big Business wird. Beim FC Bayern haben sie am Samstag ernsthaft GoPro-Kameras an den Weißbiergläsern angebracht, aus denen sie sich danach zuschütteten. Außerdem sang Anastacia in der Halbzeit, die Gegner aus Freiburg, für die es an diesem Tag ja noch um etwas ging, mussten halt dann ein bisschen warten. Ihrem langjährigen Verteidiger Holger Badstuber, den sie ziemlich umcharmant aus dem Kader entfernt haben, widmeten sie dagegen nicht mal zwei warme Worte.
Aber auch der Sport ist öde geworden. In der Bundesliga ist seit Jahren nur noch derAbstiegskampf interessant. Und die Frage, wer Vizemeister wird. Und wenn es wirklich mal eine halbwegs ernste Bedrohung für die Bayern gibt, dann ist das RB Leipzig; eine am Reißbrett eines Konzerns entwickelte Marketingmaßnahme, die zwar sehr ansehnlich Fußball spielt, für die man aber gleichzeitig so viel Sympathie empfindet wie für einen Schwarm Heuschrecken.
Dasselbe Spiel in der Champions League, die im Vergleich zum guten, alten Europapokal der Landesmeister eine sehr vorhersehbare Geschichte geworden ist: In den Vorrunden sind 7:0-Resultate nicht mal ungewöhnlich, richtig spannend wird es erst ab dem Viertelfinale. Dessen Teilnehmer stehen allerdings in sieben Fällen fest, einer ist immer der Überraschungsgast. Was aber sozusagen systemimmanent ist. Weil die Reichen durch die CL immer reicher werden und die Lücke zu den Hungerleidern beispielsweise aus Gladbach so groß, dass man an ein Viertelfinale im Regelfall nicht denken braucht.
Es gäbe also eine ganze Reihe guter Gründe, den Fußball mit all seinen irrsinnigen Summen zu boykottieren. Mit den ganzen aufgeblähten Wettbewerben, den Confed-Cups, den Euros mit 24 Mannschaften und den Weltmeisterschaften mit ungeahnt vielen Teams, die dann in den Winter verlegt werden müssen, weil man sonst im Fußball-Traditionsland Katar nicht so gut spielen kann.
Und was mach ich? Kauf ne Karte für 1860. Mit vermutlich 70.000 anderen armen Irren.
Und der angedachte Boykott? Geht ja eh erst im kommenden Jahr los.