Der Corona-Inzidenzwert bei mir zuhause lag heute bei ein bisschen was über 100. Für den Fall, dass ihr euch jetzt fragt, warum ich mit einer solchen Bagatelle anfange – genau deswegen: weil es eine Bagatelle ist.
Dass ich einen solchen Satz am Ende dieses Jahres schreiben würde, hätte ich nicht gedacht. Schon gar nicht, nachdem ich mich selbst pünktlich zum Jahreswechsel angesteckt hatte. Damals, in den USA, als eine hier noch weitgehend unbedeutende Variante namens “Omikron” aufkam, von der man ahnte, sie würde weit ansteckender sein als ihre Vorgänger (kann ich übrigens bestätigen). Heute, knapp 12 Monate später, findet sich das Corona-Thema fast nirgends mehr in den Schlagzeilen, wenn du mal jemandem mit Maske begegnest, schaust du ihn an wie ein Alien (außer, du bist gerade in einem ICE, aber selbst das ist ja bald vorbei).
Bevor jetzt jemand denkt, oha, ein Corona-Verharmloser, ein Querdenker womöglich (man landet heute ja immer wahnsinnig schnell in Schubladen): Ich bin, jawoll, viermal geimpft, meine Frau war mit Long Covid ein halbes Jahr krankgeschrieben. Ich weiß also, was dieses Mist-Virus anrichten kann und würde es alleine deswegen nicht verharmlosen. Ich schreibe nur deshalb hier so viel über Corona, weil dieses Thema ein wunderbares Beispiel dafür ist, wie es im Leben nunmal so läuft: Irgendwie geht es immer weiter und selbst bei diesem Thema, bei dem uns Karl Lauterbach noch unlängst vor dem Auftauchen einer herbstlichen “Killer-Variante” gewarnt hatte, ist es urplötzlich wieder so, dass wir weitermachen können. Im Wissen, dass es nicht die erste und auch nicht die letzte Pandemie war. Ach, und erinnert sich noch jemand an Christian Drosten?
Das alles sind keine wirklich neuen Erkenntnisse. Zumindest nicht für Menschen, die schon etwas länger auf diesem Planeten leben. Ich bin 20 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs geboren, das wird mir immer mehr bewusst. 20 Jahre nach der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, aber soweit ich weiß, ging es uns da schon wieder ziemlich gut. Meine Eltern hatten ihren ersten VW Käfer mit gerade mal Anfang 20, es gab die Beatles, die Stones und im zarten Alter von fünf Jahren stieg ich das erste Mal in ein Flugzeug für einen Urlaub (und nein, meine Eltern zählten nicht zu den Superreichen im Land).
Heulen in den Vanille-Tee
Danach habe ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, erlebt: einen sauren Regen, ein Waldsterben, ein Ozonloch, ein komplett havariertes Kernkraftwerk, verstrahltes Milchpulver und gesperrte Wälder, Kriege im Nahen Osten und auf dem Balkan, noch ein havariertes Kernkraftwerk und Fernsehshows von Mario Barth. Dass es “No Future” gibt, behaupteten Punks (also, die echten, nicht die, die das als Modebewegung missbrauchen) schon 1977 und wie bedröppelt und trostlos die Friedensbewegung in den Achtzigern in ihren Vanille-Tee heulte vor lauter Weltschmerz, habe ich auch noch ganz gut in Erinnerung.
Ich wundere mich also gar nicht über mich selbst, wenn ich beim Jahreswechsel 2022/23 einigermaßen gut gelaunt bin; sofern mich nicht wieder dieses Virus niederstreckt. Aber, siehe oben: vier Spritzen, Grund zum Optimismus also! Ich bin mir sicher, dass wir es keineswegs mit der “Letzten Generation” zu tun haben, ich glaube fest daran, dass wir sowohl den Klimawandel überstehen werden und ich bin mir auch sicher, dass unsere Gesellschaft weder so rassistisch noch sexistisch noch you-name-it ist, wie man beim Lesen und Hören und Schauen in diesen Tagen meinen könnte.
Sollten sich jüngere Leser hierhin verirrt haben: Ich kann mir gut vorstellen, wir ihr jetzt die Augen rollt, alterweißerMann!!!! Wenn’s gut geht, im schlechtesten Fall bleibt es nicht bei dieser Beschimpfung. Mich wundert es übrigens jedes Mal, wie schnell dieser Begriff zum ultimativen Schimpfwort geworden ist. Unter diesem alten, weißen Mann kommt nicht mehr viel; Diktator oder Massenmörder vielleicht noch.
Ich will jetzt nicht darüber lamentieren, dass es sich dabei genau genommen sowohl um eine Geschlechter- als auch Altersdiskriminierung handeln könnte, weil Lamentieren generell nicht so sehr mein Ding ist. Trotzdem fände ich es nett, wenn wir diesen Alterweißermann-Reflex 2023 langsam wieder beerdigen könnten. Schon alleine deswegen, weil seine Verwendung inzwischen bizarre Züge angenommen hat. Im “Spiegel” beispielsweise habe ich die Tage das Portrait einer Jungpolitikerin aus dem Bundestag gelesen, die als ihr politisches Lebensziel ausgegeben hat, “bloß kein weißer Mann” zu werden. Ich wunderte mich, wie sich nur ein alter, weißer Mann wundern kann, fand es aber offen gesagt schon auch ein wenig unambitioniert: Dein Lebensziel ist es also, irgendetwas nicht zu werden? Vielleicht ist das ja auch der Unterschied zwischen unseren Generationen; ich glaube, ich wollte immer etwas werden.
Die nächste Punk-Generation steht schon in den ungeborenen Startlöchern
Aber auch das wird vorbeigehen. Weil jeder Zeitgeist irgendwann mal eine Gegenbewegung erzeugt. Auf das verkopfte Artrock-Zeug und auf Joints und theoretische Endlos-Debatten kam der Punk; drei Accorde, f*ck off! Auf den Punk folgten die Popper, auf die nihilistischen 90er haben wir jetzt die hypermoralischen Jahre und ich bin mir sicher, dass diese moralische, vernünftige Generation gerade die neuen Punks großzieht. Die werden sich umschauen, wenn ihre Kinder ihnen plötzlich Spießertum vorwerfen (kein Mitleid, selbst schuld).
Warum das so ist? Weil das meiste von zur substanzlosen Mode verkommen ist. Merke: Wenn deine Geisteshaltung, dein Streben nach Diversity, nach Nachhaltigkeit und dem ganzen anderen Kram im Mainstream und in der Werbung für Douglas oder die Deutsche Bahn angekommen ist, dann ist sie erledigt. Von Diversity schwafelt heute jeder, weil es so wunderbar einfach ist: Wenn ein Großkonzern einen “Diversity-Beauftragten” ernennt, ist das meistens folgenlos, er muss ja nichts nachweisen. Diversity, Inklusion, Nachhaltigkeit, das sind so wolkige Begriffe, dass sich jeder Mainstreamer bei LinkedIn dranhängen und sich des Applauses und der unzähligen Likes sicher sein kann. Klar, weil: Wer will ernsthaft etwas dagegen sagen? Und würde man es tun, wäre man zumindest in meinem Fall mit einem verächtlich dahin geworfenen “Alter weißer Mann” erledigt.
Das ist schade und es schädlich, weil es die Denkfaulheit und die genormten Allesnachplappperer fordert und die eigentlichen Anliegen vernachlässigt, wenn man sich in der eigenen kuscheligen Komfortzone gemütlich eingerichtet hat. Den Blick verengt, gemeinsam gegen den Feind und alle brav in der gleichen Haltung, die Diversity beschränkt sich dann schnell mal auf die Leute mit der richtigen Haltung. So funktioniert das immer noch und so werden solche Zeitgeister auch weiterhin funktionieren. Ich wäre da nur nicht so wahnsinnig stolz drauf, weil aus Denkfaulheit noch nie etwas gutes entstanden ist.
Wir werden also, um endlich wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen, auch 2023 ff irgendwie ganz passabel überstehen. Nein, das soll nicht heißen: einfach mal so weitermachen und irgendwie wird es dann schon. Wir werden uns ein paar Dinge einfallen lassen müssen, so wie unzählige Generationen vor uns auch. Vermutlich werden wir es eher schlecht als recht machen und aus jedem gelösten Problem erwächst dann wieder ein neues. Aber auch das kennen wir ja jetzt schon seit vielen Jahren. Vom Virus werden wir dann nicht mehr so viel reden und vielleicht, mit sehr viel Glück, auch nicht mehr von Energiepreisen und dem Ukraine-Krieg. Aber dann kommt was anderes; ein Ende der Geschichte gibt es nicht, das weiß ausgerechnet meine Generation ganz gut.
Was lernen wir daraus? Dass wir die allermeisten Dinge, die wir tun, mehrmals tun müssen und nur ganz selten ein für alle Mal erledigen.
In diesem Sinne: An die Arbeit, Kopf nicht hängen lassen – und: happy 2023!
Nachtrag: Der großartige Terry Hall von den Specials ist gestorben und eine Songzeile aus “A Message to you Rudy” passt ganz wunderbar zu dem, was ich geschrieben habe:
Stop your messing around;
Better think of your future,
Time to straighten right out,
Creating problems in town.